Für Kinder, Menschen mit Behinderungen und Frauen gibt es je ein eigenes Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, nicht jedoch für ältere Menschen. Ein Artikel von Ph.D. Lutz Leisering, Professor für Sozialpolitik (i.R.) der Universität Bielefeld, und Dr. Jürgen Focke, Leiter der Stabsstelle Policy & Advocacy bei HelpAge Deutschland.
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Brauchen wir eine Weltaltenrechtskonvention?
01.09.2022
Brauchen wir eine Weltaltenrechtskonvention?
In Debatten zur Diskriminierung von vulnerablen Gruppen stehen regelmäßig Kinder und Frau im Fokus, gefolgt von Menschen mit Behinderungen. Um ältere Menschen geht es dagegen seltener und sie stehen in menschenrechtlichen Dokumenten der Vereinten Nationen generell eher am Rande. Ist daher eine Weltaltenrechtskonvention erforderlich? Diese Frage wird seit dem Jahr 2011 in einer UN-Arbeitsgruppe beraten, der Offenen Arbeitsgruppe über das Altern (Open-ended Working Group for the Purpose of Strengthening the Protection of the Human Rights of Older Persons, kurz: Open-ended Working Group on Ageing – OEWGA). Im Folgenden geht es um die Arbeitsgruppe sowie deren Beratungen zur Frage einer Weltaltenrechtskonvention.
Die COVID-19-Pandemie als Brennglas
Die aktuelle COVID-19-Pandemie hat wie durch ein Brennglas die Situation älterer Menschen bewusst werden lassen. Die teilweise Suspendierung von Besuchsrechten für ältere Menschen in Pflege- und Betreuungseinrichtungen hat die Frage von Menschenrechten für Ältere erneut auf die Tagesordnung gesetzt – zunächst jedoch mit wenig Folgen. So wurde im ersten Entwurf des Plans für globale humanitäre Maßnahmen in Reaktion auf COVID-19 der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) vom März 2020 nicht auf dieser Gruppe eingegangen. Dies wurde erst in den Fassungen von Mai und Juli 2020 korrigiert, nachdem Weltaltenorganisationen wie HelpAge International (HAI) und die Globale Allianz für die Rechte älterer Menschen (GAROP) sowie die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, bei UN-Generalsekretär António Guterres interveniert hatten. Guterres nahm dies zum Anlass, im selben Jahr eine eigene Kurzdarstellung zur Situation älterer Menschen zu veröffentlichen.3 Das Dokument zeigt die Lücken in der Gleichbehandlung älterer Menschen in der Pandemie auf und wurde von 146 Staaten, darunter auch China und Deutschland, nicht aber von Russland und den USA, gezeichnet.4 Damit verpflichteten sich die Staaten, die im Bericht aufgezeigten Lücken zu schließen. Bis dato sind jedoch keine signifikanten Fortschritte zu verzeichnen.
Die Situation älterer Menschen ist eine umfassende weltweite Herausforderung, nicht nur in der Pandemie.
Eine Weltaltenrechtskonvention würde die Staaten unter anderem dazu verpflichten, verbindliche Standards für die soziale Sicherheit älterer Menschen und die Versorgung Pflegebedürftiger zu setzen. Wesentlich wäre auch eine Garantie der uneingeschränkten Teilhabe an Bildung, am Rechtssystem und der digitalen Welt. Auch ist der Schutz älterer Menschen vor Gewalt und Missbrauch in vielen Ländern rechtlich nicht ausreichend gesichert. Vor allem würde sich eine Weltaltenrechtskonvention gegen Diskriminierungen aufgrund des Alters und negative Altersstereotype wenden, die in Beruf und Alltag allgegenwärtig sind. In der internationalen Debatte spricht man hier von "ageism". Die demografische Entwicklung, nämlich das Altern der Bevölkerungen infolge zunehmender Lebenserwartung bei gleichzeitigem Geburtenrückgang, gibt der Forderung nach Altenrechten mehr Gewicht.
Während das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women – CEDAW) aus dem Jahr 1979, das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child – CRC) aus dem Jahr 1989 und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Convention on the Rights of Persons with Disabilities – CRPD) aus dem Jahr 2006 vielfach Beachtung gefunden haben, gilt dies nicht für die Arbeit der OEWGA. Es gibt nur wenig Forschung zu dieser Arbeitsgruppe.
Altenpolitik und Menschenrechtspolitik – ein schwieriges Verhältnis
In der OEWGA kreuzen sich zwei Stränge globaler Politik: Altenpolitik und Menschenrechtspolitik. Das Verhältnis der beiden Stränge ist distanziert: Die globale Altenpolitik tut sich schwer mit Menschenrechten, so wie umgekehrt das UN-Menschenrechtssystem mit älteren Menschen fremdelt.
In der globalen Altenpolitik dominiert seit langem die Orientierung an Schutz und Fürsorge der Alten, teilweise verbunden mit einem Problemdiskurs, bei dem das Alter als problembehaftet oder gar Belastung für die Gesellschaft erscheint. Altenpolitik in diesem Sinne zielt nicht primär auf Stärkung individueller Rechte älterer Menschen, sondern auf den Ausbau der altenbezogenen sozialen Infrastruktur, verbunden mit einem Entwicklungsdiskurs, der mehr auf kollektive ›Entwicklung‹ der Gesellschaft als auf individuelle Rechte setzt. Gegenüber ›Schutz und Fürsorge‹ markiert der an Gewicht gewinnende diskursive Rahmen ›Rechte‹ einen "Paradigmenwechsel" in der Altenpolitik.
Umgekehrt erwähnen UN-Menschenrechtsdokumente ältere Menschen eher am Rande.11 Die erste Weltversammlung zur Frage des Alterns (World Assembly on Ageing) mit dem Wiener Internationalen Aktionsplan zur Frage des Alterns (International Plan of Action on Ageing) aus dem Jahr 1982 und die Zweite Weltversammlung über das Altern (Second World Assembly on Ageing) mit dem Internationalen Aktionsplan von Madrid über das Altern (Madrid International Plan of Action on Ageing, kurz: ›Weltaltenplan‹) aus dem Jahr 2002 markieren die ersten zentralen Thematisierungen der Altenfrage. Obwohl in diesen Dokumenten auch von Rechten älterer Menschen die Rede ist, dominiert das Schutz- und Fürsorgeparadigma in Verbindung mit einem Entwicklungsdiskurs. Die OEWGA thematisiert dagegen die Altenfrage aus der Perspektive von Menschenrechten.
Warum kategoriale Menschenrechtsübereinkommen?
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 wurde im Jahr 1966 in Form von zwei Pakten verbindlicher gemacht: dem Zivilpakt (International Covenant on Civil and Political Rights – ICCPR) und dem Sozialpakt (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights – ICESCR). Daher könne es nun keinen zwingenden Grund geben, zusätzlich zu der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den sie umsetzenden beiden Pakten gruppenbezogene, ›kategoriale‹ Menschenrechtserklärungen zu erarbeiten. Neben die drei allgemeinen UN-Menschenrechtsdokumente sind in der Folge jedoch sechs weitere getreten, von denen vier spezifischen sozialen Gruppen gelten: die drei oben genannten zu Frauen, Kindern und Menschen mit Behinderungen sowie die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families – ICRMW) aus dem Jahr 1990. Daneben gibt es regionale Menschenrechtsübereinkommen und im Bereich alter Menschen vor allem das Interamerikanische Übereinkommen über den Schutz der Menschenrechte älterer Menschen (Inter-American Convention on Protecting the Human Rights of Older Persons) aus dem Jahr 2015.13 Ein Menschenrechtsübereinkommen für alte Menschen (Convention on the Rights of Older Persons – CROP) oder Altenrechtskonvention (ARK) wäre ein weiteres weltumspannendes kategoriales Instrument.
Kategoriale Menschenrechtsübereinkommen sind generell ambivalent. Es gibt Argumente für und gegen sie und einige dieser Argumente wurden auch im Rahmen der OEWGA vorgebracht.
Für kategoriale Übereinkommen spricht, dass sie es erlauben, gruppenspezifische Bedarfe und Rechte genauer zu spezifizieren und dass sie die jeweilige Gruppe sichtbarer machen und damit politische Lobbyarbeit stützen.15 Die massiven Folgen des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, insbesondere in der deutschen Politik, machen dies deutlich. Gegen kategoriale Übereinkommen spricht, dass durch die gut gemeinte Hervorhebung einer speziellen Gruppe diese Gruppe potenziell stereotypisiert und viktimisiert wird. Die Zielgruppe wird so verstärkt zum Gegenstand von Juridifizierung und Bürokratisierung. Zugleich besteht die Gefahr, dass allgemeine Interessen gegenüber gruppenbezogenen Partikularinteressen ins Hintertreffen geraten. So wird der Sozialpakt, der alle Menschen betrifft, tatsächlich sehr viel weniger für Zwecke politischer Mobilisierung genutzt als kategoriale Übereinkommen, insbesondere die für Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen.
Kritikerinnen und Kritiker befürchten zudem einen Überdruss unter globalen Akteuren gegenüber Konventionen (»convention fatigue«)16, sowie eine Überlastung und teilweise übersteigerte Fragmentierung des Menschenrechtssystems. Nationale Regierungen befürchten hohe Folgekosten eines Übereinkommens, wie von der deutschen Regierung infolge der Behindertenrechtskonvention erfahren, politischen Druck, neue Maßnahmen für die betreffende Gruppe zu ergreifen, sowie vermehrte Berichtspflichten gegenüber den UN. Bei einer wachsenden Zahl kategorialer Übereinkommen ist zudem mit Wettbewerb zu rechnen, da öffentliche Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist.
Die Offene Arbeitsgruppe über das Altern
Die Initiative für die Erarbeitung einer ARK ging im Jahr 2007 von lateinamerikanischen Staaten aus18, noch frühere Initiativen in den Jahren 1948, 1991 und 1999 verliefen im Sande.19 Bereits bei der Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in den Jahren 1947 und 1948 setzten sich lateinamerikanische Staaten besonders für soziale Rechte ein, auch für die Rechte älterer Menschen. Gegründet wurde die OEWGA auf Betreiben von Argentinien und Brasilien durch die Resolution 65/182 der UN-Generalversammlung, die als "Folgemaßnahmen zur Zweiten Weltversammlung über das Altern" fordert, "eine allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen offenstehende Arbeitsgruppe zu dem Zweck einzusetzen, den Schutz der Menschenrechte älterer Menschen zu verstärken, [...]".
Schon zu Beginn der OEWGA gab es erhebliche Meinungsunterschiede zwischen den Staaten, ob eine ARK wünschenswert ist. Daher wird beziehungsweise wurde lange nicht direkt über die Frage selbst verhandelt, sondern es wurde auf der 7. Sitzung im Jahr 2016 entschieden, dass sich die Verhandlungen in Zukunft auf ausgewählte inhaltliche Themen fokussieren sollen – im Allgemeinen je zwei Themen oder Themenblöcke, um bereichsspezifische mögliche Lücken existierender menschenrechtlicher Instrumente zu identifizieren. Im Feld der OEWGA operiert eine Vielzahl von Akteuren. Akteure der OEWGA im engeren Sinne sind nur diejenigen, die einen Platz im Plenarsaal der Verhandlungen am UN-Amtssitz in New York zugewiesen bekommen und Rederecht haben. Dies sind vor allem die UN-Mitgliedstaaten, die das primäre Rederecht haben.
Die nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) haben Bereiche und Plätze auf den Tribünen. Eine weitere Akteursgruppe sind die Nationalen Menschenrechtsinstitutionen (National Human Rights Institutions – NHRIs), für Deutschland das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) in Berlin. Erst bei der 7. Sitzung im Jahr 2016 wurde entschieden, dass NHRIs akkreditiert werden und teilnehmen können.
Die nationalen und internationalen NGOs bilden mittlerweile die größte Akteursgruppe. Erst bei der 4. Sitzung im Jahr 2013 waren NGOs stärker präsent und es kam zu ersten Dialogen mit den UN-Mitgliedstaaten. Die Zahl der NGOs ist ständig gestiegen. Unter den internationalen NGOs nimmt die GAROP die führende Rolle ein; wichtig sind auch die Organisationen ›Age Platform Europe‹, HAI, und global operierende national basierte NGOs, vor allem die britische ›Age International‹, ›HelpAge Deutschland‹ und die Geschäftsstelle Internationale Altenpolitikinternationale der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) Deutschland. Eine vierte Akteursgruppe neben den Staaten, den NGOs und den NHRIs sind Akteure aus dem UN-System, vor allem die UN-Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (UN Department of Economic and Social Affairs – UN DESA) und das Hohe Kommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte (Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights – OHCHR). Redeberechtigt ist auch die Unabhängige Expertin für den Genuss aller Menschenrechte durch ältere Menschen, seit dem Jahr 2020 Claudia Mahler vom DIMR. Schließlich gibt es einen Vorsitz, der seit Gründung der OEWGA von Argentinien gestellt wird.
Meinungsverschiedenheiten innerhalb der OEWGA
Die Debatten innerhalb der OEWGA zeigen einen breiten Konsens in vielen Fragen wie auch markante Dissense. Die Suggestion gemeinsamer Grundüberzeugungen zieht sich durch die Debatten. Praktisch alle Akteure stimmen darin überein, dass demografischer Wandel eine zentrale Herausforderung ist, wie auch immer wieder von António Guterres betont, dass alte Menschen ein hohes Gut sind und mehr für sie zu tun ist und dass allen Menschen Teilhabe zu ermöglichen ist.
Der Hauptdissens bezieht sich auf die Frage, ob es eine ARK geben soll oder nicht. Die primäre Argumentationsfront liegt zwischen Befürwortern, die Lücken in vorliegenden Menschenrechtskonventionen diagnostizieren und daraus die Notwendigkeit einer ARK ableiten, und Gegnern, die nur Umsetzungsmängel existierender Übereinkommen sehen, weshalb eine neue Konvention entbehrlich sei, sowie Gegnerinnen und Gegnern, die Menschenrechte generell ablehnen oder alternative Strategien verfolgen. Entsprechend zieht sich die Suche nach ›Lücken‹ durch viele Diskussionen.
Einige Gegner einer ARK wenden sich generell gegen eine fortschreitende Fragmentierung des UN-Menschenrechtssystems. Dem hält die Gegenseite die Mobilisierungsfunktion eines eigenen, altenbezogenen Übereinkommens vor. Ein wiederkehrender prozessualer Dissens betrifft das Mandat der OEWGA. Naturgemäß legen Gegner einer ARK, etwa Russland, das Mandat eng aus. Sie lehnen auch Ergebnisdokumente der Sitzungen ab, während Befürworter solche Dokumente fordern, um erreichte Teilkonsense festzuhalten und von dort aus weiterarbeiten zu können.
Die meisten Staaten lehnen eine ARK, aus ganz unterschiedlichen Gründen, ab. Gegen eine ARK sprechen sich unter anderem China, der Heilige Stuhl, Kamerun, Russland, Schweden und die USA aus. Deutschland und andere europäische Länder, auch die Europäische Union (EU), sind unentschieden. Die EU hatte bei der 3. Sitzung im Jahr 2012 sogar signalisiert, dass eine ARK und daher auch eine Fortführung der OEWGA nicht nötig sei. Erst auf der 7. Sitzung im Jahr 2016 öffnete sich die EU. Gemischt sind die Positionen innerhalb der einflussreichen Gruppe der 77 (G77), zu der auch China zählt. Für eine ARK sprechen sich insbesondere lateinamerikanische und afrikanische Staaten aus.
Tendenziell gehen die Ablehnungen durch Regierungen zurück und zuletzt zeigte die wachsen-de Präsenz höherrangiger UN-Vertreterinnen und -Vertreter, dass die UN der Arbeitsgruppe eine größere Bedeutung zumisst. Kanada und Spanien sowie Staaten des australisch-pazifischen Raumes zeigten sich ab dem Jahr 2019 bereit, eine ARK zu unterstützen. Manche ablehnenden Regierungen rühmen ihre Erfolge bei der Verbesserung der Infrastruktur für alte Menschen in ihrem Land, ohne dabei Menschenrechte überhaupt zu erwähnen. Andere geben dem Ziel kollektiver sozioökonomischer und infrastruktureller Entwicklung expliziten Vorrang vor Menschenrechten oder interpretieren dieses Ziel als Beitrag zur Durchsetzung von Menschenrechten.
Entsprechend halten einige die vorliegenden Übereinkommen für zureichend, vor allem den Weltaltenplan, so die Position Ungarns. Auch verweist China regelmäßig auf den Weltaltenplan; dort seien die Rechte älterer Menschen ausreichend berücksichtigt. Der Weltaltenplan ist jedoch kein genuin menschenrechtliches Dokument, und er deckt die für ältere Menschen wichtigen Bereiche nur selektiv ab. Das gilt auch für den vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) verfassten deutschen Bericht zum Überprüfungsgipfel des Weltaltenplans, was in Stellungnahmen der deutschen Zivilgesellschaft bemängelt wurde.
Auch die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) mitsamt ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) sind kein Ersatz für eine ARK. Gemäß dem chinesischen Direktor von UN DESA, Liu Zhenmin, stehe die Menschenrechtsfrage nicht im Zentrum der internationalen Diskussionen; die Ziele 16 und 17 der Agenda 2030 reichten aus.24 In den SDGs werden ›Ältere‹ allerdings nur dreimal erwähnt (SDG 2.2; 11.2; 11.7). Auch Menschen mit Behinderungen, unter denen viele Ältere sind, werden in der Agenda nur marginal thematisiert. Weitgehend bleibt es bei der generellen Formulierung in der Präambel der Agenda, dass niemand zurückgelassen wird.
In ihrer Fortschreibung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie seit dem Jahr 2021 hat die Bundesregierung zudem die Rechte, Teilhabe und Partizipation älterer Menschen nicht eingehender thematisiert. Ältere werden dort nur einmal ausdrücklich betrachtet, bei der Beschreibung der Erwerbstätigenquote (Alter 60–64 Jahre) in einer Grafik. Die Generation ab einem Alter von 65 Jahren bleibt gänzlich außen vor. Auch im freiwilligen Staatenbericht, der den Umsetzungsstand der Agenda 2030 beschreibt, ging Deutschland beim hochrangigen politischen Forum über nachhaltige Entwicklung in New York im Juli 2021 auf diese offensichtlichen Lücken nicht ein, trotz Mahnungen der Zivilgesellschaft.
Eine Altenrechtskonvention bleibt ein Desiderat
Es ist erkennbar geworden, dass ältere Menschen im UN-Menschenrechtssystem randständig sind und dass umgekehrt in der globalen Altenpolitik traditionell ein Schutz- und Fürsorgeparadigma statt des Paradigmas individueller Rechte vorherrscht.
Die OEWGA bietet die Chance, dass Altenpolitik und Menschenrechte enger zusammenfinden. Befürworter eines eigenen Menschenrechtsübereinkommens für ältere Menschen mahnen Lücken in vorliegenden allgemeinen Menschenrechtskonventionen in Bezug auf ältere Menschen an. Andere globale Übereinkommen, insbesondere der Weltaltenplan und die Agenda 2030, sind kein Ersatz für eine genuine Menschenrechtskonvention. Die Menschenrechtsübereinkommen für Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen haben gezeigt, dass durch eigenständige, kategoriale Menschenrechtskonventionen die Sichtbarkeit vulnerabler Gruppen deutlich erhöht werden kann mit signifikanten Folgen für politische Mobilisierung.
Die Idee einer ARK wird jedoch wie zuvor gezeigt nicht von allen Staaten geteilt. In der Arbeit der OEWGA werden nicht nur unterschiedliche Positionen zu Menschenrechten für ältere Menschen erkennbar, sondern auch grundsätzliche Vorbehalte gegenüber Menschenrechten sowie kollektivistische Interpretationen von Menschenrechten. Über die Frage älterer Menschen hinaus zeigt das Beispiel der OEWGA die Grenzen der in Deutschland oft als selbstverständlich unterstellten Legitimität der Menschenrechte.
Einen unerwarteten Impuls gab es auf der letzten, der 12. Sitzung der OEWGA im April 2022. Argentinien schlug vor, auf Staatenebene eine überregionale Kerngruppe zu bilden, die dann Ende Mai tatsächlich unter Beteiligung Deutschlands gebildet wurde und der deutsche Vertreter in einer Sitzung mit deutschen NGOs und Menschenrechtsorganisationen durchblicken ließ, das in diesem Prozess Deutschland eine aktive Rolle übernehmen kann. Die Kerngruppe soll für die 13. Sitzung der OEWGA im Jahr 2023 eine Beschlussvorlage erarbeiten, damit eine Arbeitsgruppe eingerichtet wird, die bis zur folgenden Sitzung einen Text zu den Lücken im menschenrechtlichen Schutz für ältere Menschen erstellt.
Sollte dann auf der 14. Sitzung der OEWGA im Jahre 2024 eine Mehrheit für eine ARK zustande kommen, so wären die Weichen gestellt, das Spektrum der Menschenrechtsübereinkommen für besonders vulnerable Gruppen durch eine Weltaltenrechtskonvention zu erweitern.
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Die englischsprachige Version finden Sie hier als PDF bereit zum Download.
Ihre Ansprechperson
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